Vor 75 Jahren begann in Düsseldorf die Ausstellung "entartete Musik"
Es ist ein Anschlag auf das freie Geistesleben, wie er nur in einer Diktatur möglich ist: vorgeblich wissenschaftlich objektiv und aggressiv ideologisch, so durchdacht wie inkonsequent, raffiniert und dumm zugleich. Bei den Reichsmusiktagen in Düsseldorf wurde heute vor genau 75 Jahren die Ausstellung "Entartete Musik" eröffnet. Es ist der Moment, da der Musik die Unschuld geraubt wird. Organisator der Schandschau ist Hans Severus Ziegler, der sich das Konzept bei der Ausstellung "Entartete Kunst" (1937 in München) abguckte.
Zeichensetzung? - Darin sind die Nationalsozialisten geübt, das beherrschen sie. So ist es gewiss kein Zufall, dass die "Entartete Musik"-Ausstellung nur zwei Tage nach der 125. Wiederkehr des Geburtstags von Richard Wagner beginnt - jenes Richard Wagner, der in seiner Schrift "Das Judenthum in der Musik" die Grundzüge jenes Typus des Antisemitismus definiert, den die Nationalsozialisten ideologisch perfektionieren und der in letzter Konsequenz in die Gaskammern der Konzentrationslager führt.
Der Judenmord der Nationalsozialisten verläuft auf zwei Ebenen: jener der physischen Vernichtung und jener der geistigen Auslöschung. Der Jahrhunderte zurückreichende jüdische Beitrag zur deutschen Kultur soll als wertlos abgestempelt und der Vergessenheit überantwortet werden.
Doch das Unterfangen steht auf wackeligen Beinen. Längst haben sich die Errungenschaften jüdischer Künstler durchgesetzt und gehören zum festen Vokabular auch nicht-jüdischer. Selbst wenn es den Nationalsozialisten gelänge, etwa die Musik jüdischer Komponisten zu unterdrücken, würde die Erinnerung an sie fortleben im Werk ihrer nicht-jüdischen Nachfolger.
Um auch das zu unterbinden, bedarf es eines ideologischen Hilfsmittels. Der Begriff "entartet" kommt den Nationalsozialisten gerade recht: Er lügt objektive Wissenschaftlichkeit vor, es schwingt Krankheit, genauer: Erbkrankheit mit. Gefunden haben sie die Verbindung des Begriffs "entartet" mit Kunst und Kultur in den Schriften des jüdischen Arztes Max Nordau. Der Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation veröffentlichte 1892/1893 die beiden Bände "Entartung" und 1894 "Entartung und Genie". Nordau wendet darin den Begriff der Degeneration an auf die Werke etwa von Friedrich Nietzsche, Leo Tolstoi, Henrik Ibsen und Emile Zola - und auf die Richard Wagners. Adolf Hitler übernimmt zahlreiche Thesen Nordaus, tauscht aber die Zielpersonen aus. Nordau prophezeite in "Entartung" eine menschliche Katastrophe von nie gekanntem Ausmaß - sein Tod im Jahr 1923 bewahrte ihn davor mitzuerleben, in welchem Ausmaß er recht gehabt und Anteil daran hatte.
Was ist "entartet"?
Was genau sie unter "entarteter Musik" verstanden, konnten freilich auch die Nationalsozialisten nicht definieren. Da war zum Beispiel das Jazz-Problem. Der Jazz galt wahlweise als "Nigger-Jazz" (Jazz ausgesprochen, wohlgemerkt, als "Jatz") oder als "jüdisch", was von beidem er nun genau war, spielte keine Rolle, verpönt war schließlich beides.
Jazz - das bedeutet synkopierte, federnde Rhythmen. Kaum bediente sich nun ein Komponist solcher Rhythmen, stand er, selbst wenn es keine Jazz-Rhythmen waren, unter Jazz-Verdacht. So erschnüffelten linientreue Kritiker sogar in Carl Orffs "Carmina burana" Spuren des Verbotenen.
Der eigentliche diesbezügliche Sündenfall war die Oper "Jonny spielt auf" von Ernst Krenek: In ihr wird ein Schwarzafrikaner zum Protagonisten, die Oper selbst gestaltet Krenek als melancholischen Abgesang auf die Naturromantik, der er die grelle Lebensfreude US-amerikanischer Tanzrhythmen gegenüberstellt. "Jonny spielt auf" entwickelte sich zum Feindbild der Nationalsozialisten in einem solchen Ausmaß, dass sogar das Plakat zur "Entartete Musik"-Ausstellung auf die Oper des nicht-jüdischen Österreichers anspielt.
Die Schlager und Unterhaltungsmusik der Nationalsozialisten freilich klingen, als hätten sie just dieses Werk als Modell, und selbst der NS-Paradekomponist und "Lili Marlen"-Erzeuger Norbert Schultze besang die "Bomben auf Engeland" mit krenekscher Knorrigkeit.
Eine ähnliche Absurdität war der Fall des deutschen Komponisten Paul Hindemith. Seine klassizistische Musik stand in bester deutscher Tradition der handwerklichen Redlichkeit, er hatte am 17. Jänner 1936 einen freiwilligen Treueeid auf Hitler unterzeichnet und in seiner selbst getexteten Oper "Mathis der Maler" kommentiert eine Gestalt die darin vorkommende Bücherverbrennung mit den Worten: "Des Widerstandes Stahl härtet sich / Im Feuer, in Flammen glüht die neue Zeit", und Mathis selbst, immerhin der Sympathieträger der Oper, bezeichnet marodierende Unruhestifter, ganz in der Tiere und unliebsame Menschen gleichsetzenden Diktion der Nationalsozialisten, als "Menschenvieh".
Zwölftonmusik für Hitler
Allein - es half nichts. Hitler verzieh Hindemith nicht, dass er in seiner frühen Oper "Neues vom Tage" eine parodistische Koloraturarie in einer Badewanne hatte singen lassen - und Hindemith war "entartet". Der Hindemith-Nachahmer Harald Genzmer hingegen stand hoch im Kurs, und selbst die Bearbeitungen von Wehrmachts- und "neuheidnischen" Weihnachtsliedern, die der Österreicher (oder wohl eher bekennende Ostmärker) Cesar Bresgen anfertigte, orientierten sich an Hindemiths Musik für Jugendliche.
Inkonsequenzen allüberall: Dass die Nationalsozialisten etwa den jüdischen Komponisten Arnold Schönberg verboten und mit ihm die gesamte "jüdische Erfindung" der Zwölftontechnik, egal, ob ihre Anwender nun jüdische oder nicht-jüdische Komponisten waren, verstünde sich von selbst - wäre da nicht der Däne Paul von Klenau. Ihm gelang es, die Nationalsozialisten davon zu überzeugen, dass in seinen Opern die Zwölftontechnik eine Analogie zum Führerprinzip sei: Alles erscheine dem einen Gedanken untergeordnet. 1937 wird seine Oper "Rembrandt van Rijn" sogar an zwei Häusern gleichzeitig, in Berlin und Stuttgart, uraufgeführt.
Die Ausstellung "Entartete Musik" verfehlt übrigens ihr Ziel: Die meisten Besucher kommen, weil sie endlich wieder dank der akustischen Beispiele, die abschrecken sollen, jene Musik hören können, die ihnen die nationalsozialistische Diktatur vorenthält.
Zieglers Karriere war nach 1945 keineswegs völlig zu Ende: Er durfte sein Wissen an die Jugend weitergeben und unterrichtete am Gymnasium der Nordseeinsel Wangerooge die Fächer Deutsch und Englisch. Nach seiner Pensionierung zog er sich nach Bayreuth zurück und schrieb Bücher wie "Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt" und "Wer war Hitler?". Wie die Antwort darauf ausfällt, kann man erahnen, wenn man weiß, dass im solches veröffentlichenden Verlag auch Bücher wie "Amerikas Verantwortung für die Verbrechen am deutschen Volk" und "Das deutsche Volksgesicht" erscheinen.
Aber manche Karrieren setzen sich auch ohne Einbruch fort: Zum Abschluss der Reichsmusiktage 1938 dirigiert der deutsche Komponist Werner Egk die Uraufführung seiner Kantate "Natur-Liebe-Tod". Nach 1945 bleibt Egk lange Zeit einer der führenden Komponisten Deutschlands - gemessen an seiner Begabung zweifellos zu Recht. Und Begabung war ja noch nie Charaktersache, wie man spätestens seit Richard Wagner weiß.
Quelle: Edwin Baumgartner: Der Raub der Unschuld. Der untaugliche Versuch, eine Irrlehre durch Beispiele zu bestätigen. In: Wiener Zeitung vom 24. Mai 2013
English article?
--> A critical reconstruction of the Düsseldorf exhibition of 1938 by Albrecht Dümling and Peter Girth
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