Ohne sich um das Copyright zu kümmern, hat Kenneth Goldsmith das weltweit größte Online-Archiv für Avantgardekunst geschaffen.
Als der New Yorker Schriftsteller
Kenneth Goldsmith vor Kurzem einen Vortrag in Berlin hielt, fasste er seine Kunstauffassung an einer Stelle recht bündig so zusammen: »Ein Künstler ist nicht jemand, der irgendein Gerät meisterhaft bedient. Ein Künstler ist jemand, der ein Gerät völlig falsch bedient und ein riesiges Chaos hinterlässt, das die Menschen dann wieder aufräumen müssen.« Wenn man sich sein bisheriges Werk anschaut, kann man sagen, dass Goldsmith diesem Ansatz treu geblieben ist, vor allem, seit Mitte der Neunziger:
1996 gründete Goldsmith
»UbuWeb«, eine Online-Plattform benannt nach Alfred Jarrys proto-surrealistischem Stück »Ubu Roi«, die allerlei Arbeiten der internationalen Avantgarde ins Internet stellt. Mittlerweile ist die Sammlung nahezu unüberschaubar: Auf
ubu.com gibt es frühe Kurzfilme von Orson Welles, Lesungsmitschnitte von William S. Burroughs, Kriegskalligramme von Guillaume Apollinaire, Telefoninterviews mit Bob Dylan, Videoaufzeichnungen von Tanzabenden von Sasha Waltz, das Lesungsmanuskript einer Kurzgeschichte von Alain Robbe-Grillet und vieles, wirklich sehr vieles mehr. Wenn man sich erst einmal eingeklickt hat, ist die Nacht schnell vorbei. Man hangelt sich von Entdeckung zu Entdeckung. Kenneth Goldsmith und seine Mitstreiter, die zumeist an geisteswissenschaftlichen Instituten amerikanischer Universitäten arbeiten, laden bei UbuWeb alles hoch, was ihnen irgendwie in die Finger kommt und interessant erscheint.
Das Erstaunliche dabei ist, dass es UbuWeb überhaupt noch gibt. Während weltweit illegale Tauschseiten der Reihe nach abgeschaltet werden und die Betreiber vor Gericht landen, hat es bei UbuWeb, das nun immerhin seit bald 17 Jahren online ist, noch so gut wie keine Löschanfrage gegeben. Die wenigen Dateien, deren Rechteinhaber sich melden, werden geräuschlos entfernt. Während die Betreiber von kino.to und Megaupload prominent zu Haftstrafen und Schadensersatz verurteilt werden, wächst UbuWeb kontinuierlich und ist heute das mit großem Abstand umfangreichste Archiv für progressives Denken und künstlerisches Schaffen im Internet.
Wie ist das möglich? Eine befriedigende Erklärung hat Kenneth Goldsmith selbst nicht. Es melde sich einfach niemand, der durch UbuWeb seine Urheberrechte verletzt sehe. Und auch von einer staatlichen Strafverfolgung sei ihm noch nichts zu Ohren gekommen. Dabei versteckt sich UbuWeb nicht: Man braucht für den Zugang zur Seite kein Passwort, UbuWeb wirbt mit einem eigenen Twitter-Kanal für die neuesten Uploads, jeder hat zu jedem Zeitpunkt Zugriff auf das Archiv. Ein Problem scheint damit niemand zu haben. Die Erfahrungen zeigten sogar im Gegenteil, sagt Goldsmith, dass die meisten Künstler eher dankbar seien, wenn ihre Arbeiten bei UbuWeb hochgeladen werden, obwohl das nicht einmal als Anerkennung zu verstehen ist. Denn dort landet alles, was formal irgendwie interessant ist. Zeitgenössische Arbeiten müssen nicht unbedingt gelungen sein, um bei UbuWeb hochgeladen zu werden, nur ambitioniert. Außerdem verstehen sich die UbuWeb-Macher nicht als Jury, die ein Qualitätsurteil fällt, sondern als Kunstfreunde, die so viel Material digital verfügbar machen wollen, wie nur irgend möglich. Goldsmith glaubt, dass es deswegen keinen Kläger gibt, weil UbuWeb ausschließlich Arbeiten mit avantgardistischem Anspruch digitalisiert und auf kommerziell interessanten Mainstream vollständig verzichtet: All diese komplizierten Filme, Audiodateien und Texte würde auf dem freien Markt kaum jemand umsonst nehmen, geschweige denn kaufen.
Deshalb verliert niemand Geld, obwohl UbuWeb vor kunstgeschichtlich wertvollen Arbeiten nur so strotzt. Ihr formaler Ernst macht sie für den Markt ziemlich uninteressant. Weil die Seite außerdem kostenlos nutzbar ist, nichts verkauft und keine Werbung schaltet, macht sie, anders als die gemeinen Tauschbörsen, die mit Anzeigen Geld verdienen, keinen Profit. Kostet aber auch nichts: »Wir bezahlen nur für die Domain und den Speicherplatz. Das sind vielleicht 50 Dollar im Jahr«, so Goldsmith. Gleichzeitig gibt sich das Projekt keinen politischen Anstrich oder behauptet, etwa gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Wer Rechte an einer Arbeit hat, die bei UbuWeb hochgeladen wurde, schreibt einfach eine Mail, und das Material wird entfernt. »Auf keinen Fall möchten wir Geld von Künstlern oder Herausgebern der Avantgarde stehlen, die noch Sachen herausbringen, die normalerweise wenig gekauft würden«, ist in der Charta von UbuWeb zu lesen. Und weiter: »UbuWeb fungiert sozusagen als Verteilungszentrum von schwer auffindbaren, oft vergriffenen und unbekannten Sachen, die digital ins Web gestellt werden. Wenn wir zum Beispiel ein konkretes historisches Gedicht einscannen, vermindert das den Wert der dinghaften Form des Gedichts nicht.« Trotzdem ist man vorsichtig: UbuWeb fordert seine Nutzer auf, so viel Material wie möglich von der Seite herunterzuladen und auf der eigenen Festplatte zu hinterlegen. UbuWeb speichert vieles, das Fans extra für die Seite von VHS-Kassetten oder Schellack-Platten digitalisieren. Sollte die Seite doch einmal geschlossen und sollten die Server beschlagnahmt werden, wäre diese Arbeit möglicherweise für immer verloren.
Vielleicht wird UbuWeb auch deshalb in Ruhe gelassen:
Kenneth Goldsmith und seine Mitstreiter archivieren dort das kulturelle Erbe des industriellen Zeitalters und leisten damit eine Arbeit, für die im Zweifelsfall der Staat verantwortlich wäre. Und für die er viel Geld aufbringen müsste.
Quelle: Felix Stephan: König Unbezahlbar. In: Die Welt kompakt, 10.01.2013